"Aufgeben? Ist nicht drin"
brand eins Magazin, Nr. 09/2011
Sie seilt sich von Brücken ab, besetzt Bäume und tanzt auf Baggern. Nicht aus Spaß. Aus Überzeugung. Und sie wird dafür bezahlt - von Bürgern, die öffentlichen Widerstand als geldwerte Dienstleistung sehen. Die Geschichte von Cécile Lecomte, von Beruf Aktivistin.
Von Jakob Vicari
Es war kalt. Sie hing kopfüber am Bagger, fror und hatte Angst. Angst vor den Männern der Spezialeinheit, die gleich ihre Seile durchschneiden würden, und vor dem, was sie erwartete. Sie streckte die Arme weit von sich, dann die Beine: Cécile Lecomte, genannt das Eichhörnchen. Dieser Spagat, Hals über Kopf, ist ihr Markenzeichen. Sie hatte Angst, aber sie lachte auch, das ist auf den verwackelten Filmaufnahmen zu erkennen. Eben noch hatte sie auf dem Bagger getanzt. Jetzt hing sie kopfüber da und sah, wie die vermummten Polizisten auf der Hebebühne näherkamen.
Sieben Stunden lang war die einstige Waldorf-Lehrerin zurvor mit zwei Verbündeten dem Staat auf der Nase herumgetanzt - Die Besetzung des Baggers hatte die 29-Jährige an diesem Tag zur Ikone der Proteste gegen Stuttgart 21 gemacht. Politisch betrachtet, und das hieß für sie nunmal auch geschäftlich, war dieser 30. August 2010 erfolgreich verlaufen - für die Organisation Robin Wood wie für sie, Beruf selbstständige Rebellin. [...]
Aus der politisch engagierten Waldorf-Lehrerin wurde die Vollzeitaktivistin. Widerstand sei einfach die nahe liegendste Alternative gewesen, um die gewonnene Zeit zu füllen. Anfangs lebte sie von Arbeitslosengeld, dann las sie eine Ausschreibung der Bewegungsstiftung: Bewegungsarbeiter gesucht. Gewaltfrei sollten die sein und besonders engagiert. »BewegungsarbeiterInnen«, hieß es da, »nehmen eine tragende Rolle in sozialen Bewegungen ein.«
»Ich dachte, ich bin denen zu radikal«, sagt Lecomte, »aber sie haben mich sofort genommen.« Bewegungsarbeiter werden von Paten bezahlt, die sie selber finden müssen. Lecomte hat inzwischen fast 30.
Hermann Daß aus Kassel ist einer von ihnen. Seit drei Jahren zählt der Allgemeinmediziner mit eigener Praxis zu den Paten der Profi-Blockiererin aus Lüneburg. »Als ich Cécile vor drei Jahren kennenlernte, habe ich mich sehr schnell dazu entschieden, ihre Arbeit zu unterstützen«, sagt er. In seinem Wartezimmer hat er Informationen zu ihren Aktionen ausgelegt. Manchmal kommt er so mit Patienten ins Gespräch über Politik. Er freut sich, wenn er Lecomte in den Fernsehnachrichten sieht, sie wieder irgendwo hängen sieht. »Aber dieser spontane Glückseffekt steht bei meiner Förderung nicht im Vordergrund.«
Seine Portion vom Protest bekommt Daß regelmäßig per E-Mail, wann immer ein neuer Prozess ansteht oder eine Aktion geglückt ist. Er sieht sich nicht als Strippenzieher einer Protest-Dienstleisterin, denn dazu, sagt er, habe er zu wenig Einfluss auf ihr Tun.
Daß geht gelegentlich selbst auf Demonstrationen und findet nichts verwerflich daran, eine Berufsdemonstrantin zu verpflichten. »So ist das in der arbeitsteiligen Gesellschaft: Als Arzt beschäftige ich mich mit sozialen und medizinischen Problemen. Und werde gut bezahlt.« Die Gewaltfreiheit ihrer Aktionen ist für ihn entscheidend. »Cécile würde klettern, ob ich sie nun unterstütze oder nicht«, sagt er. [...]
Lecomte führt ein Leben ohne Bankkonto. Für Vorträge nimmt sie selten Geld. Ein Teil ihres Essens besteht aus dem, was Supermärkte für den Abfall aussortieren. Während es immer wieder von draußen klopft, erzählt sie ungerührt weiter: »Als ich zur Bewegungsstiftung kam, war ich arbeitslos und habe viel Frust gemacht. Im Laufe der Jahre habe ich mehr ein Gesamtkonzept von dem entwickelt, was ich mache.« [...]