Foto unserer Bewegungsarbeiterin Nadine Saeed. Foto: Privat.
Foto unserer Bewegungsarbeiterin Nadine Saeed. Foto: Privat.

Nadine Saeed

Am 7. Januar 2005 verbrannte Oury Jalloh in einer Gefängniszelle des Polizeireviers Dessau. An Händen und Füßen gefesselt, soll der aus Sierra Leone stammende Flüchtling ein Feuerzeug aus seiner Tasche genommen haben, ein Loch in die schwer entflammbare Matratze, auf der er lag, gebohrt und diese selbst entzündet haben. So die Version, wie sie die Justiz und Polizei seit Jahren vertreten. „Oury Jalloh ist ermordet worden“, sagt dagegen Nadine Saeed. Die 37-jährige Aktivistin ist Mitglied der Initiative zum Gedenken an Oury Jalloh und kämpft seit fünf Jahren für eine Aufklärung des Falls.

Startpunkt ihres Engagements war 2011 und 2012 der Prozess gegen den damaligen Polizei-Dienstgruppenleiter vor dem Landgericht Magdeburg, den sie als Beobachterin verfolgte. „In den 67 Hauptverhandlungstagen habe ich erlebt, wie Polizisten kollektiv gelogen haben und die Justiz nicht an der Wahrheitsfindung interessiert war,“ erinnert sich Nadine Saeed. „Das war heftig. Die Gutachten, Aussagen und Belege, die dort präsentiert wurden, waren wie ein Angriff auf das logische Denken. Genauso deutlich war der Unwillen des Richters, das aufzuklären. Jeder der in dem Prozess saß, konnte es nicht fassen.“

Das Gericht verurteilte den Dienstgruppenleiter, der den ausgelösten Feueralarm minutenlang ignoriert hatte, schließlich wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 10.800 Euro. Die Theorie von der Selbsttötung Oury Jallohs zog das Gericht trotz unzähliger Ermittlungspannen, widersprüchlicher Aussagen und Hinweise auf Beteiligung Dritter aber nicht in Zweifel. „Es war offensichtlich, dass die Justiz in diesem Prozess einen rassistischen Mord in Polizeigewahrsam vertuschen wollte“, sagt Nadine Saeed.

Gegen diese Ungerechtigkeit kämpft Nadine zusammen mit der Initiative zum Gedenken an Oury Jalloh. Die Aktiven wollen Fakten offenlegen und Ermittlungen anstoßen, denen sich Justiz und Polizei seit Jahren verweigern. Dazu arbeiteten sich Nadine und ihre MitstreiterInnen durch die Akten, nahmen Kontakt zu Rechtsanwälten, Journalisten und Sachverständigen auf, organisierten Demos und Soli-Veranstaltungen und sorgten dafür, dass der Fall Oury Jalloh nicht zu den Akten gelegt wurde.

Ein wichtiger Erfolg war dabei die aufwändige Erstellung von unabhängigen Gutachten. Da Brandversuche zur Rekonstruktion des Brandbildes von den Gerichten in Sachsen-Anhalt verweigert wurden, hatte die Initiative im Jahr 2012 ein unabhängiges Brandgutachten bei einem Experten in Irland in Auftrag gegeben. Nadine war daran beteiligt, die Versuche zu organisieren, vorzubereiten, zu begleiten und zu dokumentieren. Zur Simulation des menschlichen Körpers wird dabei üblicherweise ein totes Schwein verwendet. Für Nadine war diese Simulation ein einschneidendes Erlebnis. „Es war schier unmöglich, das Schwein auf der Matratze mit einem Feuerzeug in Brand zu setzen. So kann es nicht gewesen sein.“
 
Im November 2013 stellte die Initiative das Gutachten auf einer Pressekonferenz in Berlin vor – mit großer Medienresonanz. In den Jahren darauf reiste Nadine Saeed nach London und baute Kontakte zu vier weiteren internationalen Experten in den Bereichen Brandforensik, Rechtsmedizin und Toxikologie auf. Alle vier Gutachten stellten fest, dass es sich beim Tod von Oury Jalloh nicht um eine Selbsttötung gehandelt haben kann.

Diesen neuen Ergebnissen und dem Druck der Öffentlichkeit konnte sich die Staatsanwaltschaft Dessau nicht länger verweigern und nahm 2014 ein neues Ermittlungsverfahren zur Klärung der Todesursache auf. Für Mitte August 2016 ist ein neues Brandgutachten geplant. Nadine Saeed hat kein großes Vertrauen, dass die Staatsanwaltschaft nach über zehn Jahren Untätigkeit den Hergang wirklich aufklären will. Deshalb wird die Initiative dran bleiben und Druck machen. Dabei geht es ihr nicht nur um Gerechtigkeit für Oury Jalloh, sondern um das Thema rassistische Polizeigewalt insgesamt und die breite gesellschaftliche Akzeptanz dieses Unrechts. „Nicht nur Oury Jalloh wurde getötet. Es sind so viele, die in Deutschland durch Polizeigewalt umgebracht wurden“, sagt Nadine. „Dieser Fall bietet die Chance, das Thema an die Öffentlichkeit zu tragen und so zukünftige Gewalt zu verhindern.“

Sie sieht dabei deutliche Parallelen zu den Fällen von rassistischer Polizeigewalt in den USA. Von den Medien werde gerne mit dem Finger auf die USA gezeigt. „Aber die Ursache sind rassistische Denkweisen, die tief in der Gesellschaft verankert sind – nicht nur in den USA, sondern auch bei uns in Deutschland“, sagt Nadine, die Afrikawissenschaften und Geographie studiert hat. Nach ihrem Studium hatte sie zuerst Vollzeit und unbezahlt in der selbstorganisierten Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migrant*innen in Berlin gearbeitet, bis sie schließlich ihre ganze Energie und Arbeitszeit in die Aufklärung der Todesumstände von Oury Jalloh steckte.

Längst ist ihr privates Leben in einem ökologischen Kulturprojekt bei Berlin mit ihren politischen Aktivitäten verschmolzen. Ihr Aufklärungswille führt zu massiven staatlichen Repressionen, die auch ihr Umfeld betreffen. „Seit vier Jahren werde ich überwacht. Meine Kommunikation per Handy wird streckenweise unterbrochen. Wir von der Initiative werden vom Staatsschutz mit Strafanzeigen überhäuft und als kriminelle Gewalttäter dargestellt“, berichtet Nadine. Hinzu kommen Morddrohungen aus der rechten Szene. Aber Nadine und ihre Mitstreiter wollen sich dadurch nicht aufhalten lassen. „Es ist wichtig, dass wir weitermachen. Es gibt Anwälte, es gibt Journalisten. Aber außer der Initiative gibt es niemanden, der alles zusammenträgt und in diesem Fall Druck machen wird.“

Nadine hofft, dass die Aufnahme ins Bewegungsarbeits-Programm ihr mehr finanzielle Unabhängigkeit und auch Schutz durch mehr Öffentlichkeit einbringen wird. Außerdem zieht sie Kraft aus dem, was die Initiative bisher erreicht hat. „Viele Leute nehmen das, was wir machen und tragen es weiter. Das ist großartig!“ Viele sähen die Initiative auch als Vorbild, das Mut macht, so Nadine. „Wir haben gezeigt, dass man Unrecht nicht dulden muss. Wenn du dich zusammentust, kannst du was erreichen!“