Interview mit Christoph Butterwegge

„Reichtum wird verschleiert“

Interview mit dem Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge über Armut und Reichtum in Deutschland, steuerfreies Vererben und warum die Konzentration hoher Vermögen unsere Demokratie bedroht

Laut Schätzungen beträgt das gesamte Privatvermögen in Deutschland rund 10 Billionen Euro. Wie ist das Geld verteilt?

Christoph Butterwegge: „Sehr ungleich. Die reichsten 10 Prozent besitzen 67 Prozent des Nettogesamtvermögens, das reichste Prozent 35 Prozent und die reichsten 0,1 Prozent der Bevölkerung immer noch 20 Prozent. Diese Zahlen lassen erkennen, dass die Ungleichheit während der vergangenen Jahrzehnte stark zugenommen hat. Deutschland ist in Sachen Ungleichheit bei Vermögen fast gleichauf mit den USA.“

Wer gilt als arm?

„Wer weniger hat als 60 Prozent des mittleren Einkommens – aktuell 1.074 Euro für einen Alleinstehenden –, gilt als armutsgefährdet. Das sind bei uns immerhin 13,2 Millionen Menschen – der höchste Wert seit der Wiedervereinigung.“

Ab wann gilt jemand als reich?

„Das ist heftig umstritten. Die Bundesregierung macht es sich in ihren Armuts- und Reichtumsberichten leicht. Wer 200 bis 300 Prozent des mittleren Einkommens hat, gilt ihr als einkommensreich. Auf diese Art wird Reichtum verschleiert. Denn wenn ganz viele reich sind, geraten die wirklich Reichen aus dem Blickfeld. Für mich beginnt wirklicher Reichtum, wo bis ans Lebensende keine materiellen Sorgen existieren. Dazu muss man angesichts der aktuell niedrigen Zinsen ein Vermögen von 5 bis 10 Millionen Euro veranschlagen.“

Wer erbt in Deutschland und wer geht leer aus?

„Erben tun diejenigen, die in reiche Familien hineingeboren werden. Wer das Glück hat, mit einem silbernen Löffel im Mund geboren zu sein und dann auch noch einen goldenen Löffel erbt, profitiert von dem Reichtum, der sich in wenigen Händen konzentriert. Hingegen erbt die Hälfte der Bevölkerung fast gar nichts, und dann gibt es in der Mittelschicht viele, die wenigstens eine Immobilie erben und auch bessere Startchancen als die Kinder aus der sogenannten Unterschicht haben.“

Wie viel Erbschaftsteuer fällt in Deutschland an?

„Um die 6 Milliarden Euro im Jahr. Das ist bei schätzungsweise 200 bis 400 Milliarden Euro, die pro Jahr in Deutschland vererbt werden, ein minimaler Betrag. Das Aufkommen der Tabaksteuer ist beispielsweise deutlich höher, was an der Gesetzgebung liegt. Die Erbschaftsteuer, ganz besonders die für Firmenerben, ist über Jahre hinweg so entkernt worden, dass man heute einen ganzen Konzern erben kann, ohne einen einzigen Cent betriebliche Erbschaftsteuer zahlen zu müssen.“

Warum schöpft der Staat nicht mehr ab?

„Die 45 reichsten Familien in Deutschland besitzen mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Großunternehmer, die man in Russland als Oligarchen bezeichnen würde, nehmen natürlich auch bei uns politisch Einfluss, nur dass dies gern geleugnet wird. So hat die Stiftung Familienunternehmen etwa massiv auf die letzte Reform der Erbschaftsteuer eingewirkt, die nötig war, weil das Bundesverfassungsgericht eine ‚Überprivilegierung‘ der Firmenerben gerügt hatte. Die neue Regelung ist noch großzügiger als die alte.“

Was macht das fast steuerfreie Vererben von Vermögen mit unserer Gesellschaft?

„Das führt dazu, dass sich der Reichtum weiter konzentriert. Wenn sich gleichzeitig die Armut bis in die Mitte ausbreitet, zerfällt die Gesellschaft. Die Mittelschicht gerät unter Druck und rückt nach rechts. Der Aufschwung der AfD ist für mich Ausdruck dieser sozialen Ängste. Die soziale Spaltung führt aber auch zu ganz unterschiedlichen Lebenschancen für die betroffenen Kinder. Da reicht es nicht, karitativ zu handeln. Es braucht eine andere Steuergesetzgebung. Und es muss auch über weitergehende Maßnahmen der Umverteilung von oben nach unten nachgedacht werden, wie etwa bei der Kampagne ‚Deutschen Wohnen & Co. enteignen‘ in Berlin.“

Warum regt sich nicht mehr Protest? Warum sind Erbschaftsteuern allgemein so unbeliebt?

„Viele Menschen, die sich noch nie mit dem Thema beschäftigt haben, fürchten sich davor, dass der Staat ihnen Omas Häuschen wegbesteuern könnte. Außerdem wird Reichtum bei uns mit dem Leistungsprinzip gerechtfertigt. Und dann gibt es schlicht Informationsdefizite. Wüsste man, wie hoch die Ungleichheit bei uns ist, würde vermutlich mehr Unmut aufkommen.“

Sehen Sie denn Fortschritte in der Debatte – etwa durch die Corona-Krise?

„Die Ungleichheit ist in der Pandemie deutlicher sichtbar geworden. Aber ich kann bisher keine Bewegung hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit erkennen. Zu befürchten ist, dass es eher Einschnitte in den Sozialsystemen geben wird, als dass eine stärkere Besteuerung der Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen stattfinden wird.“

Was können Vermögende gegen Ungleichheit tun?

„Von Stiftungen und Philanthropie halte ich ziemlich wenig. Was wir stattdessen brauchen, sind politische Entscheidungen demokratisch legitimierter Gremien zu einer höheren Besteuerung. Denn die Reichen sollten nicht darüber entscheiden, wem geholfen wird. Wenn jemand in Not ist, dann muss der Sozialstaat helfen. Er muss dafür sorgen, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich nicht vertieft.“

Und was halten Sie von den Aufrufen für mehr Steuergerechtigkeit, die es ja auch von Vermögenden gibt?

„Davon halte ich eine ganze Menge. Wenn Reiche und Prominente eine höhere Besteuerung von Vermögenden befürworten, ist das viel wirksamer, als wenn das ein Ungleichheitsforscher sagt.“

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ veröffentlicht.